Die ersten vier Semester meines Theologiestudiums in Freiburg vergingen im Nu. Danach folgten zwei Semester an einer anderen Universität und außerhalb des Seminars, also in einer normalen Studentenbude. Manche Kollegen immatrikulierten sich in Würzburg, Bonn, Paris und Jerusalem. Ich entschied mich für München, wo ich bei einer älteren Dame im Stadtteil Schwabing, nur wenige Fahrrad-Minuten von der Universität entfernt, ein Zimmer bezog. Sie war eine beliebte »Theologen-Zimmerwirtin«, die von Jahr zu Jahr unter der Hand weiter empfohlen wurde. Sie nahm nur Theologiestudenten aus Freiburg auf, weil ihr diese besonders sympathisch waren, wie sie immer wieder erzählte.
Mein im Alter von 22 Jahren etwas südländisch anmutendes Äußeres – mit gerade mal 170 Zentimetern Körpergröße und dunklem, gelocktem Haar – war der Grund für meine erste heitere Erfahrung in »Deutschlands heimlicher Hauptstadt«. Bei der Immatrikulation an der Ludwig-Maximilians-Universität bildeten sich zwei lange Warteschlangen, an deren Spitzen jeweils ein großer Tisch stand, darüber stand »Deutsche« und »Ausländer«. Als ich nach längerer Zeit endlich am Tisch für »Deutsche« angekommen war, wollte mich eine Dame in freundlich bayerischem Dialekt an den Nachbartisch für »Ausländer« komplimentieren, und dies, obwohl oder weil ich noch gar keine Gelegenheit gefunden hatte, ein Wort zu sagen. Meine Erklärung, dass ich aus Baden-Württemberg käme und somit zwar kein Bayer, aber sehr wohl Deutscher sei, und nicht zuletzt mein Personalausweis überzeugten die Dame von der Rechtmäßigkeit meines Erscheinens bei ihr.
Gleichwohl musste ich bei dieser heiteren Begebenheit, die sich im Lichthof der Münchener Universität ereignete, an ein ganz anderes, furchtbares Drama denken: 21 Jahre zuvor, nämlich am 18. Februar 1943, waren am selben Ort die Geschwister Hans und Sophie Scholl erwischt worden, als sie dort Flugblätter gegen Hitler verteilten. Bereits vier Tage später wurden sie zum Tod verurteilt und noch am selben Tage im Gefängnis München-Stadelheim enthauptet.
Meine zwei Studiensemester in München waren wunderschön. Eine Zeit mit vielen Kontakten, zahlreichen Besuchen der Oper, des Theaters und Balletts. Ich fühlte mich erstmals richtig als Student, der sich ohne »Gehhilfe« auf dem akademischen Parkett bewegen durfte. Ich freute mich über sehr gute Vorlesungen, besonders bei den Professoren Kuss (Römerbrief), Schmaus (Dogmatik), Egenter (Moral) und vor allem bei Karl Rahner, den ich für ein Jahr live erleben durfte, ein faszinierender Rhetoriker von unglaublichem theologischem Tiefgang. Rahner war Nachfolger auf dem berühmten »Guardini-Lehrstuhl«. (Romano Guardini, 1885–1968, war katholischer Theologe und Religionsphilosoph, für den an der Philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München ein eigener Lehrstuhl für christliche Weltanschauung eingerichtet wurde.
Nach Guardinis Tod wurde dieser besondere Lehrstuhl dem Konzilstheologen Karl Rahner zuerkannt, der dort von 1962 bis 1967 dozierte. Andere große Religionsphilosophen folgten.) Was ich mit der Externitas von München auch verbinde, ist die Freundschaft zu vielen Studenten und Studentinnen aus 40 Nationen, die sich im Ausländer-Freundeskreis (AFK) jeden Freitagabend im Haus der katholischen Studentengemeinde trafen und darüber hinaus fast täglich in der Mensa oder beim Cappuccino im Englischen Garten.
An vielen lauen Sommernächten saßen wir dort beim Monopteros, sangen zur Gitarre, erzählten und fanden kaum ein Ende. In kleinen Gruppen von zwei bis drei Studentinnen und Studenten trampten wir mit insgesamt rund 30 Personen bis nach Portugal und zurück, eine ausgesprochen abenteuerliche Reise. Mehr Klarheit über mich selbst und vor allem über das Wie eines künftigen zölibatären Lebens fand ich leider auch in München nicht, obwohl ich dort etliche Gelegenheiten sah, um mich dieser Frage zu stellen. Eine engere Beziehung zu einer der mir täglich begegnenden Studentinnen wäre das sofortige Ende meiner angestrebten Berufslaufbahn gewesen, die nun mal mit dem Zölibat verbunden war und leider bis heute immer noch ist. Ernste Gespräche bis weit in die Nacht, aber auch heitere Begebenheiten am Rande gab es in diesen Semestern zuhauf. So zum Beispiel mit einer Kommilitonin, die vor einer frühen Vorlesung bei Professor Schmaus noch nicht gefrühstückt hatte und mit knurrendem Magen neben mir im Hörsaal saß.
Ich bot ihr spontan mein Brot an mit den Worten: »Kaum sind wir bei Schmaus, da fängst du gleich an zu schmausen.« Darauf sie schlagfertig: »Wäre dir eine Vorlesung bei Professor Kuss jetzt lieber?« Mit etlichen Studenten und Studentinnen führte ich zahlreiche tiefgehende Gespräche über das Thema Zölibat. Diese endeten jedoch immer mit dem Schlusswort, dass ich mich zum Beruf des Priesters entschlossen hätte, und dieser verpflichte nun mal zum Zölibat. Ich wolle vor allem Priester werden, weil mir dieser Beruf sehr erfüllend und sinnvoll erscheine. Ein persönlich überzeugtes und davon unabhängiges Ja zum Zölibat sagte ich jedoch nie, selbst im theologischen Seminar nicht.